„Und wann folgt Nummer zwei?“ Diese oder ähnliche Fragen hörte ich oft nach der Geburt meines Kindes. Kaum war es auf der Welt, sprachen Leute von Geschwisterkindern oder davon, dass beim zweiten Kind alles einfacher wird, oder sie machten andere zweideutige Bemerkungen wie „jetzt wird’s dann langsam Zeit für das nächste, sonst ist der Altersunterschied zu groß… sonst bist du zu alt… dann hast du gleich die Klamotten parat und bist im Flow…“. Meine Reaktion darauf war immer dieselbe: Ich will kein weiteres Kind. Ja ja, warte erstmal ab, bis du auf den Geschmack gekommen bist, bekam ich dann zu hören. Aber welcher Geschmack denn? Für mich stand immer fest, dass EIN Kind genug für mich ist. Ich wollte immer nur einen Jungen. Meinen Jungen. Den Wunsch nach einem zweiten Kind oder gar mehreren Kindern hatte ich nie. Das Bedürfnis, Mutter mehrerer Kinder sein zu wollen, verspürte ich nicht. Als mich die Frauenärztin nach der Geburt fragte, ob ich einen weiteren Kinderwunsch habe, verneinte ich. Da gab es nie einen Zweifel. Ich war und bin glücklich mit meinem geliebten Einzelkind. Und ich gönne mir diesen „Luxus“ des Einzelkindes bewusst.
Wenn ich die Mütter beobachte, die zwei oder mehr Kinder haben, dann bin ich nicht neidisch. Denn mir fehlt nichts. Ich habe keine Sehnsucht nach dem Wachstum meiner Familie. Sie ist so perfekt wie sie ist. Klein und wild und ein bisschen crazy, so würde ich uns beschreiben. Als mein Kind irgendwann den Wunsch äußerte, einen kleinen Hund haben zu wollen, kam ich ins Grübeln. Einige Monate überlegte ich hin und her. Ich mochte Hunde, schon immer. Die Hunde, die ich vor meinem Kind hatte, liebte ich abgöttisch. Sie waren lange Zeit mein Lebensinhalt. In Kombination mit Kind konnte ich mir ein Leben mit einem Hund nicht recht vorstellen. Aber ich malte mir die Vorteile aus. Gemeinsame Spaziergänge in der Natur, die Nähe zu einem Tier, Rücksichtnahme und Verantwortung für ein Lebewesen übernehmen, das ist gut für Kinder, dachte ich. Also wagten wir es, meinem Einzelkind zuliebe. Ja, Einzelkinder bekommen viele Wünsche erfüllt. Stimmt. Ich bestätige das Klischee.
Der Hund lebt nun schon etwas über einem Jahr bei uns. Es ist weniger einfach als ich angenommen hatte. Die schönen verträumten Vorstellungen vom gemeinsamen harmonischen Miteinander entsprechen nicht immer der Realität. Aber okay. Letztlich war der Hund wie eine Ergänzung in unserem manchmal chaotischen Alltag. Aber bei einem Wunsch meines Kindes weigere ich mich vehement. Der Wunsch nach einem Geschwisterchen. Eines Tages fragte mich mein Kind aus dem Nichts heraus, wann er endlich einen Bruder haben kann. Ich war perplex. Bruder?! Wieso Bruder? Eigentlich hatte er nie das Bedürfnis gehabt, ein Geschwisterchen zu wollen. Bis jetzt. Also nun plötzlich doch?! Aus heiterem Himmel. Ohne Vorwarnung. So ist das bei Kindern. Nichts ist wirklich planbar. Sie überrumpeln dich, schauen dich erwartungsvoll an und du stehst sprachlos da.
Nach der ersten Schockstarre habe ich getan, was man so tut, wenn man etwas unbedingt so gar nicht will. Ich habe den gewünschten Bruder schlecht geredet. Ich habe einige Argumente aufgezählt, die abschrecken sollten. Du musst dann dein ganzes Spielzeug teilen. Du hast dann kein Zimmer mehr allein. Du musst mich und Papa teilen. Ich habe dann weniger Zeit für dich. Du musst dich als großer Bruder ständig kümmern. Geschwister streiten sich immer. Es gibt weniger Geschenke. Es könnte auch eine Schwester werden… Und was mir noch alles so eingefallen ist. Diesen ganzen Argumenten stand allerdings eins gegenüber, gegen das ich nicht ankam: „Aber ich kann dann immer mit jemandem spielen“. Ach stimmt. Das Totschlagargument schlechthin. Ja, genau dieses, das mir schon zig Verwandte und Bekannte und andere Mütter und Väter um die Ohren gehauen haben.
So, und spätestens jetzt kriege ich Brechreiz. Ja, ich weiß das alles, möchte ich schreien. Kinder haben gern jemanden zum Spielen. Besonders, wenn sie größer und ihre Spielideen komplexer werden. Und es sieht so toll aus, wenn die Zwillingsbrüder aus der Kindergartengruppe meines Kindes zusammen radeln und turnen und klettern und sich auf den Boden schmeißen und einfach immer und überall alles zusammen machen. Ja, das ist ein bisschen beneidenswert. Für mein Kind. Nicht für mich. Denn ich als erwachsene Person kenne auch die Geschwister, die sich streiten und hassen und ums Erbe bekriegen. Die kein gutes Haar aneinander lassen und ihr Leben lang um Aufmerksamkeit, Liebe und Anerkennung der gemeinsamen Eltern konkurrieren. Nicht immer, aber doch oft. Das ist nämlich das reale Leben, wenn die Spielzeit vorbei ist. Geschwisterkampf. Manchmal bis zum Tod der Eltern und darüber hinaus. In jedem Fall nicht erstrebenswert.
Und was mich am allermeisten abgeschreckt hat beim Gedanken, ein zweites Kind austragen zu müssen: Wohin mit meiner Mutterliebe? Ja, liebe Mütter, ihr alle versichert mir, dass ihr eure Kinder alle gleichermaßen liebt. Dass das gar kein Thema ist. Und doch beobachte ich immer wieder, wie Mütter die Jüngsten oder Kleinsten viel mehr liebkosen und umsorgen. Natürlich, wie soll es auch anders sein. Weil das Kleinste im Leben immer zuallererst beschützt gehört. Weil die Erwartung ist, dass das größere Kind selbstständig genug ist und auch bestimmte Dinge alleine kann. Und nicht zuletzt weil es in der Natur des Menschen liegt, manche Menschen mehr zu lieben als andere.
Ich sehe und erlebe keine Mutter und keinen Vater, die ihre Kinder gleich behandeln und gleich lieben. Und ganz ehrlich, wie soll das auch gehen? Ich kann mehrere Menschen lieben, aber ich kann nicht mehrere Menschen gleich viel lieben. Und das wollte und will ich nicht für mein Kind. Nein. Ich möchte meine Mutterliebe nicht zerteilen müssen. Ich möchte nicht, wie so viele Mütter, mir darüber den Kopf zerbrechen, ob ich all meinen Kindern gerecht werden kann.
Und was ich noch nicht möchte, sind erneut schlaflose Nächte, schmerzende Brustnippel vom Stillen, Windeln wechseln, U-Untersuchungen, Babygeschrei, Warten und Hoffen auf einen Krippenplatz, Warten und Hoffen auf einen Kindergartenplatz, Ratschläge von allen möglichen Leuten zu allen Themen rund ums Baby und Kleinkind, noch mehr fehlende Zeit für mich. Ich habe jeden Tag meiner Schwangerschaft genossen. Ich habe die 22stündige Geburt meines Kindes als das aufregendste und schönste Erlebnis meines Lebens in Erinnerung. Der Moment, als mein Kind mich das erste Mal ansah, als ob ich ein Alien wäre, mit großen aufgerissenen blauen Augen, blutverschmiertem Gesicht und faltigen Minihänden, bleibt für immer der sagenhafteste Augenblick meines Lebens. Ich habe alles von Beginn an mit Herzblut gemacht, mich aufgeopfert und verzichtet wie nie zuvor in meinem Leben. Ich wurde belohnt mit dem für mich besten Kind der Welt.
Ich möchte, dass das erste Sitzen, der erste Schritt, der erste Zahn, das erste Lächeln, das erste Wort, der erste Satz, der erste Löffel Babybrei, der erste Waldspaziergang, der erste Badeausflug, das erste vorgelesene Buch, der erste Urlaub, das erste Aufstehen und Hochziehen, das erste laute Lachen, das erste Essen im Hochstuhl, die erste Trennung in der Krippe, der erste Spielplatzbesuch, das erste Kuscheltier, das erste Mal Pipi auf Toilette, das erste Mal Radfahren, … das alles und noch all die weiteren ersten Male möchte ich nur einmal erlebt haben und erleben. Kein weiteres Mal. Weil es so besonders war und ist für mich. Weil ich bei einem zweiten Kind immer nur vergleichen würde, wie es beim ersten war. Und das Besondere dann zu etwas vergleichbar Beliebigem werden würde.
Nein, sage ich entschlossen zu meinem Kind, auf seine sich wiederholende Frage, ob er nun einen Bruder haben kann. Ich bleibe bei diesem überzeugten ehrlichen Nein. Es ist eines der wenigen Neins, bei denen ich konsequent bleibe. Ich bin jetzt Mitte vierzig und mein Leben ist nicht unendlich, um es ausschließlich mit Kinderwünschen zu füllen. Ich möchte mir gern selbst noch ein paar Wünsch erfüllen. Neben den vielen, die ich meinem geliebten Einzelkind immer wieder erfüllen werde. Ich sage also ganz mutig: Ich will kein zweites Kind, ich will kein Baby mehr, ich will nur dich als mein Kind. Die Enttäuschung meines Jungen ist ihm deutlich anzusehen, gleichzeitig versteht er mich aber auch. Die Wahrheit ist nichts, an dem ich zweifeln muss. Sie ist etwas Klares, mit dem Kinder gut zurecht kommen. Finde ich. Und deshalb bin ich stolz. Auf mich, weil ich mich traue, auch mal an meine Bedürfnisse zu denken, und auf meinen Jungen, weil er lernt, ein schwieriges Nein zu akzeptieren.
In wenigen Momenten (wirklich sehr wenige) schaue ich heimlich auf die Mütter mit mehreren Kindern und frage mich, ob sie es einfacher haben? Ob es nicht besser gewesen wäre, zumindest ein zweites Kind zu versuchen? Ich denke dann: Ich müsste nicht mehr dauerhaft Spielgefährtin sein. Es wäre womöglich leichter an manchen Tagen, an denen ich Mutter und Spielpartnerin gleichzeitig sein muss. Ich könnte die vielen Klamotten zweimal nutzen, das wäre praktischer und lohnenswerter. Ich hätte zwei Kinder, die mich Mama rufen, zwei Kinder, die mich umarmen, zwei Kinder, die mich anlachen und ja, auch zweimal die Chance, dass jemand sich um mich kümmert, wenn ich es selbst irgendwann vielleicht nicht mehr kann. Das sind viele wäre- und hätte-Sätze. Viele Konjunktive und gedankliche Konstrukte, die es wert waren, sie zu durchdenken, die aber mein Bauchgefühl nicht getäuscht haben. Ich will einfach keine Mutter von mehreren Kindern sein.
Ich bewundere alle Mehrfachmütter nach wie vor. Und auch die Mehrfachväter, die sich kümmern. Ich weiß schon, sie denken oft, ein Einzelkind ist Luxus. Weil ein Einzelkind weniger zeitlichen und finanziellen Aufwand und emotionalen Stress bedeutet als zwei oder mehr Kinder. Doch letztlich ist auch das nur eine Annahme.
Und wenn mein Kind mich nochmal nach einem Bruder fragt, sage ich: Manche Wünsche sind eben nur zum Wünschen da.

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