
Neulich im Freibad, im Kleinkindbecken zwischen Babys und Kleinkindern, Eltern und Großeltern, großen Kindern und wilden tobenden Kindern, habe ich mir wieder mal die Frage gestellt, was für eine Art Mutter ich bin? Vorausgegangen war dieser Frage eine Szene, die mich zuerst erschreckt, dann irritiert und schließlich überrascht hat. Ein kleines Mädchen, das nicht älter als zwei Jahre alt war, stürzte an der Treppe im Becken und fiel mit ihrem Gesicht auf die Stufen. Es sah übel aus. Innerlich zog sich mir alles zusammen. Mein mütterliches Herz fühlte den Schmerz dieses kleinen Kindes und ich merkte, wie ich erschrocken darauf wartete, bis die Mama des Mädchens herbeieilen und es trösten würde. Denn das gefallene Mädchen schrie bereits wie am Spieß.
Nach einer gefühlten Ewigkeit registrierte ich, wie andere Mütter ebenfalls unruhig wurden und sich hektisch umschauten nach der Mama des immer noch laut weinenden Mädchens. Sie schien nirgendwo in Sichtweite zu sein. Jede mitleidende Mutter wäre wahrscheinlich sofort zu dem Kind gelaufen, um es auf dem Arm zu nehmen und nachzuschauen, ob es sich schlimm verletzt hatte. Warum kam nun die echte Mutter des kleinen Mädchens nicht? Wieso ließ sie ihr kleines zweijähriges Kind allein im Wasser spielen? War es ihr egal oder war sie einfach nur abgelenkt, vielleicht mit einem zweiten Kind? Schließlich lief das Mädchen von sich aus los, quer durch das Kinderbecken, gerade aus auf die angrenzende Liegewiese zu. Dort, irgendwo zwischen Badegästen und umher rennenden Kindern, saß die Mutter des Mädchens und nahm ihre Kleine in Empfang. Ein kurzer Blick aufs Gesicht, das offensichtlich unbeschädigt geblieben war, und die Mutter schickte es wieder zum Wasser zurück. Das Mädchen weinte nicht mehr und spielte bald im Kinderbecken weiter.
Ich aber war ziemlich perplex über die Reaktion der Mutter. Sie hatte keinerlei Anzeichen gemacht, zu ihrem Kind zu eilen, als es gestürzt war. Stattdessen ließ sie es zu sich kommen, um es wieder zurück zu schicken. Und während das Mädchen weiter im Wasser planschte, saß die Mutter auf ihrer Decke und streckte ihr Gesicht gelassen der Sonne entgegen. Eine Art Empörung machte sich in mir bereit. Wie kann eine Mutter so herzlos und desinteressiert sein? Der Gedanke ließ mich länger nicht los. Bis mich schließlich eine ganz andere Erkenntnis traf. Diese scheinbar leidenschaftslose Mama, hat sie nicht doch richtig gehandelt? Sie war ja da für ihr Kind, in der Nähe und erreichbar. Bin ich etwa eine dieser übermotivierten, überengagierten, alles kontrollieren wollenden Helikopter-Mamas, deren Kind sich später einmal schwer tun wird mit Niederlagen und Herausforderungen klarzukommen, weil es ja gelernt hat, dass Mama oder Papa immer emsig herbeieilen, wenn es brenzlig wird? Das wollte ich doch nie sein! Wieder einmal fragte ich mich: Erziehe ich richtig oder mache ich einfach nur alles falsch?
Aber was genau ist eigentlich eine Helikopter-Mama denn? Eine wie ich, die ihr geliebtes Einzelkind beschützen und behüten möchte, die bei jedem Ruf angerannt kommt, die jedes noch so alberne Spiel mitspielt, die in indoor-Spielplätzen mit klettert und springt, die im Schwimmbad gefühlte hundertmal die Rutsche runtersaust, die sich bei jedem Wutanfall geduldig beschimpfen lässt und manchmal auch Beiß-, Kratz - und Spuckattacken erträgt, die widerwillig jede Woche dieselben Nudeln dem Kind zuliebe kocht, die wöchentlich beim Kinderturnen jeden Quatsch mit turnt, die sich jeden Abend eine neue Gute-Nacht-Geschichte einfallen lässt, die Wochenende für Wochenende die Freizeitaktivitäten nach den Interessen des Kindes plant? Ist das zu viel oder zu wenig, zu drüber oder nicht ausreichend, zu sehr verhätscheln oder das Minimum?
Nun, vom Gefühl her ist das, was ich als Mutter tue, nie genug. Ich möchte mein Kind gern auf seinem Lebensweg begleiten, möchte da sein, nicht nur physisch, sondern in jeder einzelnen Phase des Wachstums und der Entwicklung teilhaben, unterstützen, mitmachen. Wenn ich an meine Kindheit zurück denke, erinnere ich mich vorzugsweise an mich als allein spielendes Mädchen. Allein in meinem großen Kinderzimmer voller Spielzeug. Allein mit mir, meinen Puppen, Kuscheltieren, Büchern und meiner unendlichen Fantasie. Während meine Mutter sich um den Haushalt kümmerte und Vollzeit arbeitete. Meine Mutter hat keine Rollenspiele mit mir gespielt, ist nicht mit mir auf Spielplätzen herumgetobt, war nie beim Kinderturnen mit mir, ist mit mir auch nicht Roller gefahren, hat mit mir keine Schnecken im Regen gesucht, hat mit mir keine Kinderserien geschaut, um sie kurz darauf nachzuspielen, sie war nicht mit mir im Theater oder im Museum und sie hat auch keine Geschichten zum Einschlafen erfunden. Sie hat gearbeitet, geputzt, gewaschen, gebügelt, mich versorgt, mich schick angekleidet, gekocht, meine Hausaufgaben mit mir gemacht, mich zu einem braven angepassten Mädchen erzogen. So war das damals eben in der DDR.
Ich möchte meiner Mutter keinen Vorwurf machen. Ich möchte es nur anders machen als sie. Bin ich deshalb eine Helikopter-Mama, weil ich mehr Zeit, Energie und Herzblut investiere als meine Mutter es getan hat? Ich sehe mich nicht als Helikopter, ich lasse auch los, ich fliege auch davon, wenn es sein muss. Wenn ich sehe, dass mein Sohn lieber mit anderen Kindern spielt, entferne ich mich etwas. Wenn ich spüre, dass er ganz für sich seine Lieblingsserie anschauen möchte und mich unsanft von sich wegdrückt, gehe ich in einen anderen Raum. Wenn ich weiß, dass er sich auf einen Tag mit den Großeltern freut, lasse ich ihn diese Zeit ohne mich dort genießen. Ich warte und bin da, sobald er mich wieder braucht. Ich lasse ihn Dinge allein tun, wenn er will. Und ich helfe ihm dabei, wenn er keine Lust hat oder mich um Hilfe bittet.
Ich arbeite auch Vollzeit. Ich kümmere mich auch um den Haushalt. Ich führe auch eine Ehe. Ich spiele und erziehe auch einen Hund. Und trotzdem, mein Einzelkind bleibt immer der Mittelpunkt für mich. Bei allem, was ich tue, gibt es diesen einen Menschen, der meine ganze Aufmerksamkeit bekommt, jeden Tag meines jetzigen Lebens. Das Bild, wie ich und mein Einzelkind Hand in Hand die Straße entlang laufen, hat sich mir eingebrannt. Wir sind ein eingespieltes Team, obwohl die Nabelschnur längst durchtrennt ist. Wenn ich mich und meinen Sohn betrachte, sehe ich eine stolze Frau, die gern Mutter ist und ich sehe einen Jungen, der viel lacht und mich in seine kleine Kinderwelt jeden Tag mitnimmt.
„Helikopter-Eltern“ ist ein ungerechter Begriff. Finde ich. Der Begriff wird der Selbstlosigkeit und der Liebe vieler Eltern nicht gerecht. Vielleicht gibt es Mamas, die übervorsichtig sind, besonders ängstlich, zu streng, zu aufmerksam, zu fixiert auf ihr Kind. Vielleicht gehöre ich dazu? Und wenn schon. Macht mich das zu einer schlechteren Mutter oder mein Kind zu einem benachteiligten Kind? Ich habe als Kind frühzeitig gelernt, mich allein zu beschäftigen. Das war bestimmt gut. Gleichzeitig habe ich nicht gelernt, zu meiner Mutter eine innige Beziehung aufzubauen. Das ist bestimmt nicht gut. Ich bedaure das.
Noch eine Weile möchte ich genießen, dass ich die große Mama bin und mein Kleiner mich als Beschützerin, Spielgefährtin, Vertrauensperson und Verbündete wünscht. Ich bin an der Seite meines Kindes. Und wenn wir im Schwimmbad sind und er stürzt, dann frage ich, ob er sich weh getan hat, ich puste und tröste und umarme, ich bin in jedem Fall da, solange ich kann und solange ich muss. Es ist mir egal, ob andere Mütter sitzen bleiben, wenn ihre Kinder weinen. Wenn mein Kind fällt oder sich weh tut, dann schreie ich nicht gleich hysterisch los. Ich bin einfach an seiner Seite. Und ich bleibe da bis er sagt, dass ich gehen kann.
Als Mutter eines Einzelkindes habe ich nur diese eine Chance, alles gut zu machen. Was gibt es denn Größeres, als einem heranwachsenden Menschen Werte zu vermitteln und Liebe zu schenken? Es klingt so einfach, und trotzdem macht es sich keine Mutter, die ich kenne, leicht. Vielleicht haben wir alle in uns ein bisschen den Helikopter am Start. Und wenn schon. Manche Mütter kreisen weniger um ihre Kinder, manche mehr. Es gibt keinen idealen Weg in der Erziehung. Manchmal hätte ich mir gewünscht, meine Mutter wäre ein bisschen mehr Helikopter und weniger Arbeitstier gewesen, hätte mit mir mehr gespielt und weniger geputzt, hätte ab und zu gesagt, dass sie mich lieb hat anstatt mir die schönsten Klamotten überzustreifen. Jede Generation hat ihre Eltern und ihre Kinder. Jede Generation hat ihre Zeit. Helikopter-Mama also, wieso eigentlich nicht?
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